Eine Wohnung bei Festland: Das Ende einer langen Reise
Nadin Schindel ist 27 Jahre alt. Seit ihrer Geburt lebt sie mit den Folgen einer frühkindlichen Hirnschädigung, die ihre Bewegungsfähigkeit stark einschränken. Trotzdem hat Selbstbestimmtheit für sie oberste Priorität. Dabei hilft ihr auch ihre Wohnung bei Festland, dem Wohnprojekt für junge chronisch kranke Menschen. Doch der Weg zu Festland und zu einem selbstbestimmten Leben war alles anders als leicht. Hier berichtet Nadin in eigenen Worten von ihrem Weg.
Teil 1: Gesucht, gefunden, eingezogen.
Festland: barrierefrei, rollstuhlgerecht, Mitarbeiter im Haus, Gemeinschaftswohnen. Anders gesagt: viele tolle Möglichkeiten, die ich nutzen und gestalten wollte. Begeistert und voller Freude zog ich ein. Doch es kam anders.
Festland steht für mich am Ende einer langen Reise. Seit meiner Volljährigkeit im Jahr 2013 ziehe ich durch verschiedene Einrichtungen und Wohnangebote. Mit dem immer gleichen Ergebnis: Es passt nicht. Immer ziehe ich voller Begeisterung und Elan ein – und voller Enttäuschung und Fragen wieder aus. Wäre es besser gewesen, mehr Kompromisse zu machen? Habe ich zu viel gewollt? Gibt es überhaupt ein passendes Wohnangebot für mich?
Den ersten Kontakt zu Hamburg Leuchtfeuer …
… habe ich im November 2017, an meinem persönlichen Tiefpunkt: Meine gesundheitliche Situation ist schlecht, sehr schlecht und mir fehlt die Perspektive.
„Ich verstehe Sie. Wir kennen die Probleme – und wir wissen, dass es Menschen wie Sie gibt. Deswegen bauen wir ja Festland. Aber wir haben ja noch nicht mal den Grundstein für unser Haus gelegt”, heißt es im ersten Telefonat mit Hamburg Leuchtfeuer. Das ist Desaster und Hoffnung zugleich. Aber vor allem ist es Trost. Die verstehen mich. Die kennen mein Problem. Und sie arbeiten an einer Lösung.
Aber kann das sein? Ist Festland mehr als nur ein gut gemeintes Inklusionsversprechen? Ich habe große Zweifel. Ich habe zu viele Enttäuschungen erlebt. Die bisherigen Wohnangebote waren gut, teilweise sehr gut. Nur eben nicht für mich, sondern für Menschen mit anderen Bedürfnissen. Dann ein Anruf:
„Hallo Frau Schindel, hier ist Ulf Bodenhagen von Hamburg Leuchtfeuer. Ich habe mal eine Frage: Wie muss ein Ofen sein, damit Sie den auch benutzen können?“
„Ich benutze keinen Ofen. Der Ofen ist heiß, da kann etwas passieren. Und ich bin nicht gern im Krankenhaus.“
„Eben. Aber wie müsste der Ofen sein, damit Sie ihn benutzen können?“ Er meint die Frage ernst.
„Also, er müsste natürlich in Rollstuhlfahrerhöhe sein. Kein Backwagen; da kriege ich die Dinge rein und nicht wieder raus.“
„Da kann man sich auch verbrennen. So was nehmen wir nicht. Das ist unpraktisch,” bestätigt Herr Bodenhagen.
„Und er muss eine richtige Tür haben, die man richtig öffnen kann, wie ein Fenster oder eine Tür”, sage ich.
„Ja, und die Tür darf auch nicht heiß sein.“
Es sind Gespräche wie diese, in denen mir klar wird: Die meinen das ernst. Die bauen ein Haus für Menschen wie mich.
Mai 2020. Die Pandemie hat auch mein Leben fest im Griff.
Die Therapie, die mir Selbstständigkeit und ein Leben ohne Schmerzen ermöglicht, kann nicht wie gewohnt stattfinden. Das ist eine Katastrophe. Und wieder gibt Hamburg Leuchtfeuer mir Hoffnung: Die Interessentengespräche für eine Wohnung bei Festland starten. Der Einzug ist weiterhin für Dezember 2020 geplant und ich erhalte später die Zusage für eine der Ein-Zimmer-Wohnungen.
Am 15. Dezember 2020 ziehe ich ein. Die Freude über das wunderschöne Festland und die genau passende Wohnung ist riesig. Aber die Angst vor Enttäuschung ebenso: Wird das Leben hier gelingen? Oder kann nicht einmal Festland mir Selbstbestimmung ermöglichen, wie ich sie mir wünsche?
Ich weiß, bei Festland gibt es besondere Mülltonnen, damit auch Rollstuhlfahrende den Müll selbst wegbringen können. Meine Angst, es trotzdem nicht zu schaffen, ist so groß, dass ich mich drei Tage lang nicht traue, das Müllwegbringen zu versuchen. Ich möchte nicht schon wieder an Grenzen stoßen. Schließlich ist die Tüte richtig voll, der Müll riecht unangenehm – zaghaft versuche ich, im Keller die schräg gestellten Tonnen mit Schiebedeckel zu benutzen. Die große Überraschung: Es klappt. Sogar richtig gut. Es geht ganz leicht. Und ganz selbstständig, ohne Hilfe. Die Erleichterung, nicht an unüberwindbare Grenzen gestoßen zu sein, ist riesig.
Ich werde mutig, meine Wohnung bei Festland praktisch auszuprobieren.
Am Heiligabend traue ich mich zum ersten Mal auf den Balkon. Und ich werde nicht enttäuscht: Es klappt alles: das Öffnen der Tür, Rausfahren, Drehen, wieder Reinkommen und Tür Schließen. Ich bin begeistert. Und ich spüre, wie in mir etwas heilt. In den meisten meiner Wohn-Stationen hatte ich einen Balkon. Nutzen konnte ich ihn nie. Ich bekam die Tür nicht auf. Oder noch schlimmer: Ich kam nicht wieder rein.
Anfang des Jahres traue ich mich, es mit dem Ofen zu probieren. Meine Angst ist riesig: Als ich vier Jahre war, ließ meine Mutter mich auf den Herd fallen. In dem Versuch, mich abzustützen und wenigstens nicht mit dem Gesicht auf die heißen Platten zu fallen, habe ich mir beide Hände stark verbrannt. Mein Herz schlägt heftig, es ist schwer für mich, die Panik zu überwinden. Schließlich ist das Baguette fertig und der Ofen hat mich nicht verletzt. Ich bin sehr erschöpft nach der überstandenen Angst und ich staune über mich selbst: Ich kann den Ofen benutzen.
Ganz alleine!
Im zweiten Teil von Nadins Geschichte berichtet sie von ihrem Ankommen bei Festland – und den inneren Konflikten, denen sie sich nun stellen kann.
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Mehr Infos zum Wohnprojekt Festland gibt es hier: