In schwierigen Lebens situationen Halt und Rat zu suchen, ist manchmal ein schwerer Angang. Die Einzel gespräche im Lotsenhaus unterstützen trauernde Menschen und dienen der persönlichen Stabilisierung.
Annes Abschied von Jürgen
Als Anne das Lotsenhaus verlässt, liegt ein langer und bewegter Weg hinter ihr. Vor gut einem Jahr starb ihr Mann Jürgen plötzlich bei einem Unfall. Im ersten Moment war sie völlig überfordert. „Was sollte sie jetzt tun? Was wurde überhaupt von ihr erwartet?“ Durch eine Freundin kam sie zum Lotsenhaus. Sie begleitete Anne auch dorthin. Alleine hätte sie das zu diesem Zeitpunkt nicht geschafft. Es ging alles viel zu schnell.
Gerade plante sie noch mit ihrem Mann den nächsten Urlaub, jetzt sollte sie sich für immer verabschieden und das ohne eine Idee, wie. Darüber hatten die beiden noch nie gesprochen.
Es hatte einen Moment lang fast etwas absurdes, dass das erste, was Anne im Lotsenhaus zu hören bekam, war, dass sie Zeit hätte. Das war das erste Mal seit Tagen, dass sie sich nicht gedrängt fühlte, etwas zu tun oder zu entscheiden. Sie bekam Zeit erstmal von sich, ihrem Mann und ihrer Ratlosigkeit zu erzählen. Und so kam eine Geschichte zur anderen. Was für ein Mensch ihr Mann war, fragte die Lotsenhaus-Bestatterin und wie sie sich beiden kennengelernt haben… Und für Momente war sie zurückversetzt in ihre gemeinsamen verrückten Unternehmungen.
Als Jürgen sie überredete mit seinem alten Bus und fast ohne Geld über Wochen Europa zu erkunden. Nie hätte sie gedacht, dass das klapprige Gefährt die Tour überstehen würde und so manches Mal hielt sie die Luft an, wenn er mal wieder den riskanteren – weil aufregenderen – Pass nahm.
Eigentlich glaubte Anne, im Gespräch mit der Bestatterin nur organisatorisches zu besprechen. Jetzt kam sie fast ins Träumen über alte Geschichten. Es war ein Wechsel aus Lachen und Weinen und das tat unendlich gut. Sie war beinahe ein wenig euphorisch, als sie hörte, dass sie mit ihrer Freundin und den Söhnen überlegen könne, wie der Abschied von Jürgen ein passender würde.
Das hat dazu geführt, dass sich alle zuhause zusammengesetzt haben und phantasierten, was Jürgen wohl gefallen hätte. Und so wurde der Abschied keine klassische Trauerfeier, sondern ein Zusammensein mit seinen Freunden bei Bier und Kümmerling mit seiner Lieblingsmusik. Ab und an stand einer auf und erzählte eine Anekdote, so auch sie ihre Geschichte von der Bustour durch Europa. Bei aller Traurigkeit hatte es etwas Tröstliches zu sehen, wie viele Freunde gekommen waren und zu hören, was sie alles mit Jürgen erlebt haben.
Die Zeit danach war schwer und so manches Mal dachte Anne, sie schaffe es nicht, ohne Jürgen weiter zu leben. Auch wenn sich ihre Freundin und die Söhne wunderbar um sie kümmerten, fühlte sie sich wie in Watte gepackt, unfähig, sich ein Leben ohne Jürgen vorzustellen.
Und wieder war es ihre Freundin, die sie zurück ins Lotsenhaus brachte, dieses Mal jedoch zur Trauerbegleitung. Ehrlich gesagt hatte sie sich davon nicht so viel erhofft, wissend, dass ihr das Reden ihren Jürgen nicht zurückbringen wird. Es kostete sie Mühe, sich aufzuraffen und mitzugehen. Umso erstaunter war sie, dass bereits beim ersten Gespräch mit der Trauerbegleiterin wieder etwas ähnliches passierte, wie schon zuvor in den Gesprächen mit der Bestatterin. Das Erzählen über Jürgen stimmte sie für Momente traurig und fröhlich zugleich. Die Fragen, was Jürgen ausmachte, was er an ihr liebte und sie an ihm…all das ließ sie so verbunden mit Jürgen sein, dass sie manchmal in den Gesprächen glaubte, er sei da.
Wenn Anne heute zurückschaut auf das letzte Jahr, dann kann sie kaum glauben, dass sie das viele Auf und Ab in ihrer Trauer und ihrem Erleben auszuhalten vermochte, sicher auch, weil sie damit nicht allein war.
Auch wenn sie Jürgen weiter vermisst – das wird wohl auch immer so bleiben – sie hat viel geschafft in dieser Zeit und hat für sich verstanden, dass Jürgen immer einen Platz in ihrem Leben haben wird und sie gerade deshalb auch wieder neue Schritte wagen kann und will.