Festland: Das Ende einer langen Reise – Teil 3
Vor mittlerweile zwei Jahren ist Nadin Schindel im Wohnprojekt Festland eingezogen. Im dritten und letzten Teil der Reihe „Das Ende einer langen Reise“ berichtet sie von der praktischen Gemeinschaft im Alltag, wie zupackend ihr das Team vor Ort hilft und darüber, welche unerwartete Tragweite Tomaten in einem Alltag mit Rollstuhl haben können.
Hier können Sie Teil 1 und Teil 2 der Reihe lesen.
Teil 3: Die verschiedenen Dimensionen von Tomaten
“Die andere Wahrheit ist, dass ich große Angst vor einer Covid-Erkrankung habe. Schon eine normale Erkältung birgt für mich das Risiko einer Lungenentzündung. Wenn mich die Erkrankung so schwächt, dass ich mich nicht mehr wie gewohnt bewegen kann, ist das eine enorme Belastung für meinen Körper. Und es ist ein Angriff auf meine Selbstständigkeit, die mir doch so wichtig ist. Ich möchte auf keinen Fall auf die Intensivstation. Und ich weiß, ich bin nicht die Einzige, die sich vor Covid fürchtet.
Trotzdem machen wir das Beste draus. Einige von uns gehen gemeinsam spazieren, um sich kennen zu lernen. Einige Nachbarn helfen mir beim Einkauf, indem sie mir etwas mitbringen. Ich bin sehr froh darüber. Mit einer Nachbarin komme im Keller ins Gespräch. Begeistert erzähle ich ihr, dass ich den Ofen selbst benutzen kann. An den Herd traue ich mich noch nicht. Einen schweren Topf mit heißem Wasser mit einer Hand vom Herd zu heben, ist noch mal etwas anderes als ein Baguette vom Ofenrost zu nehmen. Sie erzählt mir vom Thermomix. Ich habe schon mal davon gehört. Aber ob das Gerät wirklich so praktisch ist? Ein gemeinsames Ausprobieren ist wegen der Pandemie schwierig. Daher darf ich den Thermomix für einige Tage in meiner Küche allein ausprobieren. Das Ergebnis: Ich kann kochen! Zumindest ein bisschen. Richtig gut klappt es noch nicht. Aber für mich ist das ein großer Schritt und ein besonderes Erlebnis.
Die Tragweite der „kleinen“ Probleme
Und zu lachen gibt es auch viel: Da ist z.B. die Mini-Tomate, die sich im Gestänge meines Rollstuhls verfängt – und das so ungünstig, dass ich sie nicht erreichen kann. Ich mache mir Sorgen, dass die Tomate bei der nächsten Verstellung des Rollstuhls zerdrückt wird und es dann eine ziemlich matschige Angelegenheit ist, den Stuhl wieder sauber zu kriegen. Die Tomate kann nicht warten. Das ist klar. Ich bin ziemlich aufgeschmissen. Ich bitte einen Nachbarn, mir bei dem Problem zu helfen. „Klar, mache ich.“, sagt er.
Innerhalb von Sekunden ist die Tomate aus dem Gestänge raus – und noch dazu heil geblieben.
„Sag mal, Du hast doch gesagt, Du hast ein Problem und ob ich Dir helfen kann. Wobei brauchst Du Hilfe?“ Einen Moment bin ich irritiert.
„Du hast mir doch gerade geholfen. Die Tomate war das Problem.“
„Ach so. Die Tomate war das Problem.“ Wir lachen beide. Danach vergewissert sich der Nachbar: „Sonst brauchst Du keine Hilfe?“
Ich erkläre, warum die Tomate im Gestänge für mich ein großes Problem war und warum ich so dankbar bin, dass es nun gelöst ist.
Eines Abends komme ich nach Hause. Vor meiner Wohnung steht ein großes Paket. Ich habe keine Chance, in die Wohnung zu kommen. Ich bitte einen Nachbarn um Hilfe. „Klar, ich komme mit,” sagt er.
Als wir oben sind, stellt er ironisch fest: „Das Paket steht da aber auch besonders günstig. Da hat ja richtig einer mitgedacht.“ Er stellt das Paket in die Wohnung und hilft auch gleich beim Auspacken. „So“, „und welche Hilfe brauchst Du noch?“ Ich erkläre auch diesem Nachbarn noch mal, dass das Paket schon das Problem war.
Es sind solche Situationen, in denen mir bewusst wird, dass die für mich unüberwindbaren Hindernisse für meine Nachbarn manchmal gar nicht als Problem erscheinen. Und das ist gut. So gibt es immer eine Lösung.
Silberstreifen am Horizont
April 2021: Ich gehöre zu den ersten Festland-Bewohnenden, die gegen Covid geimpft werden. Endlich! Diese riesengroße Angst schwindet.
Ende Juli machen etwa 200 Meter von Festland entfernt Aldi und Edeka auf. Für viele von uns ist das ein großes Ereignis. Endlich wird das Einkaufen leichter. Die „Reise“ ins gut anderthalb Kilometer entfernte Überseequartier für Lebensmittel ist nicht mehr nötig. Ich gehöre zu den Menschen, für die je nach Tagesform ein so weiter Angang einfach zu viel ist. Manchmal geht es einfach nicht – beim besten Willen nicht. 200 Meter, das geht auch, wenn es mir nicht so gut geht. Und die Mitarbeiter von Edeka helfen gerne beim Einkaufen und sind auch gut zu finden.
Und überhaupt merke ich, dass bei Festland das Leben auch an nicht so guten Tagen schön ist. Das Team tut alles, um mir das Leben leicht zu machen. Ob Mehrfachsteckdose verkabeln oder Online-Retoure verpacken – sie machen es mit großer Begeisterung. Oft sind sie darüber erstaunt, wie viel mir diese kleinen Handgriffe bedeuten. Für mich sind das unlösbare Aufgaben. Und eine simple Bitte reicht: „Klar, das mache ich sehr gerne. Ich komme gleich.“ Es ist diese unaufgeregte und stets freundliche Begegnung, diese ganz zugewandte Unterstützung, die mir oft Tränen der Dankbarkeit in die Augen treibt. Und mich zweifeln lässt: Ist das echt? Oder träume ich das? Tun die nur so oder freuen die sich wirklich, mir zu helfen? Wir führen mehrere offene Gespräche darüber.
Zupackende Hilfe, auch wenn es grad nicht passt
Schließlich passiert das mit dem Bettlaken. Es ist eines Morgens an einem Freitag nass. Ich frage unseren Festland-Ansprechpartner, ob mir helfen kann. „Eigentlich habe ich keine Zeit. Ich habe heute noch so viel zu tun.“ Auch das finde ich besonders: die Ehrlichkeit vom Festland-Team.
Doch wir sind uns einig: Das nasse Laken kann nicht warten. Viele Nachbarn sind nicht sicher genug auf den Beinen dafür. „Weißt Du was?“, sagt er schließlich. „Ich komme gleich und helfe Dir, obwohl ich keine Zeit dafür habe. Ja, das geht.“ Er meint es ernst. Wenige Minuten später ist das Bettlaken-Problem Geschichte. „Du hast mir den Tag gerettet.“, meint er und sieht begeistert aus dem großen Fenster im Flur. „Wie bitte?“, frage ich unsicher. „Meinst Du das ernst?“
„Ja, klar. Ich meine das ernst. Heute Morgen hier hoch zu kommen, den Blick aus dem Fenster und die Sonne hier oben zu genießen, hat mir gut getan. Einmal kurz raus aus dem Büro. Das ist wirklich so. Danke. Das war richtig gut.“ Ich denke noch ein paar Tage darüber nach, ob das wirklich passiert ist oder ob ich mir das eingebildet habe.
Verständnis und echte Anteilnahme
Schließlich dämmert mir: Das ist echt.
Immer mehr sickert die Einsicht durch, dass ich in Festland nicht so tun muss, als ob. Wenn es mir nicht so gut geht, darf ich es sagen. Die Menschen um mich herum haben dafür Verständnis. Und sie fragen, ob sie etwas für mich tun können.
Insbesondere das Team hier im Haus zeigt mir diese besondere Dimension von Festland: Echte Anteilnahme. Kluge Fragen und respektvolle Anmerkungen helfen mir dabei, meine Gedanken zu sortieren und wirklich bei Festland anzukommen.
Es dauert neun Monate, den inneren Schmerz zu überwinden und zu begreifen: Hier bin ich immer willkommen. Auch dann, wenn es mir nicht gut. Das größte Geschenk, das Festland mir macht: Ich sein zu dürfen. Das tröstet und heilt.”
Mehr Informationen über unser Wohnprojekt finden Sie hier auf der Seite von Festland.
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